Mit drei Frauen im Vorstand ist STIHL eine Ausnahme unter den deutschen Familienunternehmen. Eine von ihnen ist Ingrid Jägering. Sie ist seit August 2022 Vorständin Finanzen bei STIHL – und seit Anfang Mai auch Schirmherrin des neuen „Women Network @STIHL“. Welche Erfahrungen sie als Frau in der Arbeitswelt gemacht hat, warum Netzwerke so wichtig sind und welche Tipps sie jungen Frauen mit auf den Weg gibt, verrät sie „Blick ins Werk“ im Interview.
Frau Jägering, Sie sind jetzt ein Jahr Finanz-Vorständin bei STIHL. Nehmen Sie uns doch mal kurz mit: Woher kommen Sie, was hat Sie geprägt?
INGRID JÄGERING: Meine Wurzeln liegen im eher ländlich geprägten Münsterland. Dort bin ich in einem Unternehmerhaushalt aufgewachsen: mein Vater war selbstständig, meine Mutter hat sich um die Buchhaltung gekümmert. Somit bin ich schon sehr früh mit Unternehmertum und dem Thema Finanzen in Berührung gekommen.
War Ihre Mutter dann das erste weibliche Vorbild?
INGRID JÄGERING: Ganz klar ja. Ich habe meine Mutter immer für ihren Einsatz, ihr Engagement bewundert. Wir waren ein Handwerksbetrieb, waren aber bei der ersten Digitalisierungswelle dank meiner Mutter vorne dabei, hatten sehr schnell einen Computer und meine Mutter hat Anfang der 1980er-Jahre ein ERPSystem eingeführt. Das klingt vielleicht nach einer Kleinigkeit, aber unser Betrieb hat rund 35 Mitarbeitende und rund vier Millionen Euro Umsatz. Daher bedurfte es gewisser Strukturen, Prozesse und Systeme. Durch die Arbeitsteilung meiner Eltern gab es daheim keine Rollenklischees. Beide haben gearbeitet, beide haben sich um uns vier Kinder gekümmert und alle haben gemeinsame zum Wohle des Unternehmens mit angepackt. Für mich war das etwas ganz Natürliches. Der Betrieb übrigens wird inzwischen sehr erfolgreich von meiner Schwester weitergeführt.
Änderte sich das mit dem Start ins eigene Berufsleben?
INGRID JÄGERING: Ja, absolut. Als ich 1986 meine Lehre begann, sagte der Personalleiter: „Ach, wissen Sie, Fräulein Becker, wir mussten Sie einstellen. Wir müssen die Quote erfüllen.“ Die Quote sah bei den kaufmännischen Auszubildenden 50 Prozent Männer und 50 Prozent Frauen vor. Mir wurde von Beginn an klargemacht, dass es eigentlich schade ist, Energie für eine Auszubildende aufzuwenden, die dann doch heiratet, Kinder bekommt und Zuhause bleibt. Das habe ich als Ansporn genommen, um zu zeigen, was wir Frauen alles draufhaben.
Die häuslichen Vorbilder, aber auch negative Erlebnisse, haben mich immer motiviert, das Beste aus meiner Situation und Position zu machen und nicht aufzugeben. Ich habe Karriere gemacht. War in vielen Unternehmen, war viel im Ausland, immer in der fachlichen Umgebung Controlling, Performance Management als Business Partner und Accounting in produzierenden Unternehmen. Und dann stellte sich auch für mich und meinen Mann irgendwann die Frage nach einer eigenen Familie.
Und wie lautete die Antwort auf diese Frage, die für viele wegweisend ist?
INGRID JÄGERING: Mein Mann und ich kennen uns schon sehr lange. Ich war damals 16, er 21, als wir ein Paar wurden. Da hat sich vieles einfach ergeben und wurde nicht wirklich geplant oder hinterfragt. Jedes Paar muss am Ende seinen Weg finden. Für mich war und ist der Beruf ein ganz wichtiges Kriterium, mich selbst als Mensch, als Persönlichkeit zu entwickeln. Daher wäre ich nie Zuhause geblieben. Mein Mann hat daher erst halbtags gearbeitet, später hat er sich sogar komplett zum Hausmann entschieden. Rückblickend kann ich sagen: Wir haben es super hinbekommen. Unsere Tochter und unser Sohn sind – und das finde ich richtig toll – mit ganz anderen Rollenbildern groß geworden und sind heute sehr offen.
Das war sicherlich nicht immer einfach. Ist dieses Modell mal angezweifelt worden?
INGRID JÄGERING: Natürlich gab es immer mal wieder Kommentare – wie es sie fast immer und überall gibt. Gott sei Dank standen sowohl seine als auch meine Eltern stets hinter uns und auch wir waren uns immer einig, dass das unser Weg ist. Aber eine solche Entscheidung ist immer sehr individuell. Mit den heutigen Angeboten wie etwa Elternzeit oder auch Teilzeitmodelle für beide Elternteile muss es auch nicht immer darauf hinauslaufen, dass einer Vollzeit arbeitet und der andere gar nicht. Wichtig ist, dass man sich nicht beirren lässt und seinen eigenen Weg geht.
Sie haben viel im Ausland gelebt und gearbeitet. Wie war es da?
INGRID JÄGERING: Als wir nach Hongkong gingen, war Bernd oft der einzige Mann unter all den Partnerinnen der Führungskräfte. Das war nicht immer einfach für ihn, für uns. In den USA hingegen war es ein ganz anderes Erlebnis, denn dort hat niemand unser Modell hinterfragt – jeder kann sein Leben dort so gestalten, wie er es gerne möchte. Es werden weniger Fragen gestellt, die persönliche Definition findet nicht so sehr über die Rolle oder den Job statt.
Im Umkehrschluss ergibt sich daraus, dass Sie auf anderer Ebene auch oftmals die einzige Frau waren. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
INGRID JÄGERING: Ich würde mich als sehr geerdet und in mir ruhend beschreiben. Das hat mir in vielen Situationen geholfen. Aber ich teile die Erfahrungen vieler Frauen in Führungspositionen, dass es oftmals ein schmaler Grat ist, auf dem wir uns bewegen. Daher habe ich es so gehalten, dass ich im beruflichen Umfeld nicht so häufig über Familie, Feminismus oder meine Bedürfnisse gesprochen habe. Mein Fokus lag und liegt darauf, einen guten Job zu machen, zu Netzwerken und inhaltlich zu überzeugen. Für künftige Generationen wird es hoffentlich einfacher, selbstverständlicher. Doch dazu müssen auch entsprechende Strukturen geschaffen werden. So sehe ich es als meine Aufgabe, auf die Unterschiede der Sichtweisen hinzuweisen und darauf, dass sich jede Frau sowohl im Beruf als auch bei der Familie frei entscheiden kann. Ohne, dass es von anderen kommentiert wird.
Da sind Sie ja als Schirmherrin des neuen Frauennetzwerks bei STIHL genau richtig. Beim ersten Treffen haben Sie sich aktiv als Mentorin angeboten. Haben bereits Kolleginnen darauf reagiert?
INGRID JÄGERING: Das Treffen hat gewirkt: es haben sich einige Frauen aus verschiedenen Bereichen und Hierarchiestufen bei mir gemeldet. Sie alle haben das Bedürfnis, sich auszutauschen, um ihren Karriereweg besser für sich gestalten zu können. Die Rolle als persönliche Mentorin ist für mich sehr spannend, weil es mein Draht zu einer neuen Generation ist und auch ich durch den Austausch lerne. Darüber hinaus hat mich das erste Treffen des neuen Frauennetzwerks richtig begeistert! So viel Energie, so viel Offenheit und tolle Gespräche hinterher. Es zeigt sich, dass die Organisatorinnen damit einen Nerv getroffen haben. Allerdings steht die wahre Arbeit jetzt erst an: Es muss weitergehen, es muss neue Impulse aus der Gruppe geben und es folgen auch hoffentlich Ergebnisse.
STIHL ist nicht Ihre erste berufliche Station: Gab es vorher schon Frauennetzwerke, die Sie unterstützt oder aufgebaut haben?
INGRID JÄGERING: Aber ja. So habe ich schon überlegt, ob ich eines meiner erfolgreichen Frauennetzwerke nächstes Jahr mal zu uns nach Waiblingen einlade. Unter anderem bin ich Gründungsmitglied beim Netzwerk „Women in Foreign Trade“. Die Idee oder vielmehr die Fragestellung bei Gründung dieser Gruppe war damals: Wie kriege ich Frauen in die männerdominierte Welt der Exportwirtschaft? WIFT ist ein Expertinnen-Netzwerk für alle Akteure im Bereich Außenhandel und der Exportfinanzierung: Exporteure, Banken, Export-Kreditversicherer, Ministerien, Verbände und weitere. Unser Kernanliegen ist es, als Kompetenzzentrum im Außenhandel zu fungieren und durch eine Vernetzung sowie gezielte Maßnahmen den Anteil von qualifizierten Frauen in Führungs- und Entscheidungspositionen zu erhöhen. Der Austausch mit diesem Netzwerk wäre auch sicherlich für unser Frauennetzwerk bei STIHL sehr befruchtend. Weiter gibt es ein älteres Netzwerk, in dem wir uns untereinander weiterbilden und uns helfen, fit für Aufsichtsratsmandate zu werden und zu bleiben. Bis zu einem solchen Mandat ist es ein langer Weg und neben einer guten Vernetzung bedarf es immer Fleiß, Ehrgeiz und Hartnäckigkeit und die Bereitschaft, in diese Netzwerke zu investieren, auch wenn man nicht sicher weiß, ob etwas dabei herauskommt.
Unterstützen Sie nur Frauen oder gibt es auch Männer, die sich an Sie wenden?
INGRID JÄGERING: Na klar! Ich unterstütze auch einige junge Männer. Sie alle sind in Deutschland groß geworden, haben deutsches Abitur gemacht, sind komplett integriert, haben aber arabische Namen. Allein deshalb bleibt ihnen oftmals die Chance verwehrt, ihren Traumjob anzutreten. Nur, weil sie Mohammed, Ahmed oder Kalid heißen. Sie zu fördern, ihnen zu einer Chancengleichheit zu verhelfen ist mir ein großes Anliegen. Es geht mir darum, Menschen so anzuerkennen, wie sie sind.
Welche Tipps würden Sie jungen Frauen – und Männern – geben, die am Anfang Ihrer Karriere stehen oder Neues wagen wollen?
INGRID JÄGERING: Seid authentisch. Authentizität wird heute zum Glück als Stärke, als Charisma ausgelegt. Und Menschen merken schnell, wenn ihnen jemand etwas vormacht. Dann hilft ein gesundes Selbstbewusstsein sowie ein sicheres Auftreten: Wenn ihr einen Raum betretet, setzt euch nicht ganz still irgendwo hin, macht euch sichtbar – das habt ihr verdient.
Das ist ein schönes Schlusswort. Frau Jägering, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Ingrid Jägering ist seit dem 1. Mai 2022 Mitglied des Vorstands der STIHL AG, seit dem 1. August 2022 ist sie Finanzvorständin. Zu ihrem Aufgabenbereich zählen unter anderem die Bereiche Finanzen, Controlling, Treasury und die Steuerung von Unternehmensbeteiligungen.
Ingrid Jägering wurde 1966 in Südlohn geboren, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Sie begann ihre Karriere 1986 bei der Siemens AG in Bocholt mit einer Ausbildung zur Industriekauffrau. Bis April 2012 war sie durchgängig bei dem deutschen Konzern und mehreren seiner Tochterunternehmen. Mehr als zehn Jahre war sie Teil des Top-Managements der jeweiligen Unternehmen: zuletzt als Geschäftsführerin und Chief Financial Officer des Geschäftsbereichs Windkraft bei Siemens Wind Power A/S in Dänemark. Im Anschluss war sie Geschäftsführerin und CFO unterschiedlicher Geschäftseinheiten bei MAN DIESEL & TURBO SE in Augsburg und Oberhausen, bevor sie im April 2016 zum CFO, Mitglied der Geschäftsleitung und Arbeitsdirektorin bei OSRAM Opto Semiconductors GmbH in Regensburg ernannt wurde. Von August 2019 bis Ende März 2022 war sie Finanzchefin und Arbeitsdirektorin bei der börsennotierten Leoni AG.